22.
Lektion - lectio vicesima altera (viginti duo,-ae,duo 22)
1. Quô ûsque tandem abûtêre, Catilîna, patientiâ nostrâ?
quô ûsque = quoûsque
Adv. bis wohin, bis wann, wie lange (spr. kwô ûs-kwe);Innhalt:
L. Sergius Catilina, ein Römischer Cavallier von gutem Geschlechte hatte sich bisher als
Propraetor in Africa befunden. Er geriet aber in Schwelgerey, und eben dadurch nothwendig in Armuth.Also Catilina (108 - 62 v. Chr.) war ein gut aussehender, durchtrainierter, gebildeter, armer, skrupelloser Revolutionär aus alter, aber verarmter Familie, der sich nach Macht und Geld sehnte. Er glaubte, daß das Konsulat der beste Weg sei, ihm die Erfüllung seiner wenig ehrenvollen Pläne zu bescheren. Er wurde jedoch mehrmals abgewiesen. Cicero hingegen wurde 63 v. Chr. zum Konsul gewählt. Was in Catilina vorging, kann unschwer erraten werden. Am 28. Oktober 63 wollte er zuschlagen: Rom in Brand setzen und die Optimaten ermorden lassen. Aber Ciceros Spione waren auf der Hut. Er selbst setzte durch, daß der Senat den Konsuln unbeschränkte Vollmacht für die Unterdrückung des Aufstands erteilte. Der dazu nötige Notstandsbeschluß (senâtûs cônsultum ultimum) wurde am 21./22. Oktober gefaßt.
Der dabei gesprochene Wunschsatz: videant cônsulês, nê quid dêtrîmentî capiat rês pûblica! die Konsuln sollen dafür sorgen, daß der Staat keinen Schaden nehme! gab den Konsuln freie Hand für alle von ihnen für nötig zu erachtende Maßnahmen zum Schutze der Republik.
(nê quid dêtrîmentî daß nicht etwas an Schaden-Genitiv-, dêtrîmentum, î n der Schaden)
Der vorhin erwähnte Manlius war ein ehemaliger Anhänger Sullas. Er hatte in Etrurien ein Revolutionsheer zusammengestellt, mit dem er am 27. Oktober in Richtung Rom marschieren sollte. Nach der geplanten Ermordung Ciceros hatte Catilina vor, die Führung dieses Heeres zu übernehmen.
Nun sind die nötigen Hintergrundinformationen gegeben, und wir können uns ans Studium der ersten Rede Ciceros gegen L. Sergius Catilina machen. (Sollten Sie aber zu den Personen gehören, die noch mehr über Catilina erfahren wollen, so empfehle ich Ihnen das ausgezeichnete Nachwort von Karl Büchner in der Reclam-Ausgabe der vier Reden, Nr. 9399.)
Die Liste der rhetorischen Fragen wird von Cicero folgendermaßen fortgeführt:
2. Quam diû etiam furor iste tuus nôs êlûdet?3. Quem ad fînem sêsê effrênâta iactâbit audâcia?
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Erklärungen:
2. furor, ôris m Wut, Raserei, Wahnsinn (vgl. Anhang 21. Lektion);
ê-lûdô, êlûsî, êlûsum, êlûdere sein Spiel treiben, an der Nase herumführen
3. quem ad fînem = ad quem fînem bis zu welchem Punkt, sêsê = verstärktes sê,
sê iactâre = iactârî sich rühmen, prahlen, iactâbit 3.S. Ind.Fut.Akt. sie wird sich rühmen
ef-frênâtus, a, um ungezügelt (frênum, î n Zügel)
4. In nihil-ne leitet die Partikel -ne eine Satzfrage ein, auf die man die Antwort Ja erwartet, vgl. neunte Lektion, Einleitung. Diese Satzfrage-Partikel wird bei den folgenden nihil nicht wiederholt, sie hat globale Wirkung.
praesidium, iî n Schutz, Besatzung; Palâtium, iî (î) n der Palatinische Hügel (Palatin)
(In der 1. Lektion sagten wir bereits, daß Substantive auf -ium im Gen.Sing. neben -iî auch einfach -î haben, also auch praesidî des Schutzes neben praesidi-î.)
Palâtînus môns der palatinische Hügel, auf dem prächtige Villen standen. Unser Palast, Pfalz, das engl. palace usw. haben hier ihren Ursprung. Bei drohender Gefahr für die Stadt wurde der Hügel mit Wachen besetzt. Der Tempel des Iuppiter Stator war damit gleichfalls abgesichert. Cicero hatte den Senat wohl aus Sicherheitsgründen dorthin einberufen, denn normalerweise fanden Senatssitzungen in der curia (Rathaus) statt oder auch in einem der Tempel des Forums.
vigiliae urbis
Streifendienste, die die Stadtteile überwachten.Übersetzung:
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Immer, wenn jemand aufklären, loben, verdammen, überzeugen, anstacheln usw. wollte, hielt er eine Rede- woran sich natürlich auch heute nichts geändert hat. Schon Gorgias, der Sophist (485-380 v. Chr.), brachte die "kunstmäßige" Beredtsamkeit nach Athen. Für ihn war eine Rede immer eine geplante Überredung, die mit allen zur Verfügung stehenden Stilmitteln gestaltet werden mußte. Die Rhetorik als Lehre von der erfolgreichen Rede war spätestens seit Gorgias ein wichtiger Lehrgegenstand, den selbstverständlich auch ein Redner wie Cicero voll beherrschte.
(Heutzutage pflegen Wirtschaftsunternehmen für teures Geld -nicht selten 1500 Dollar pro Teilnehmer und Tag- teure US-Rhetorik-Gurus zu Eintagsseminaren in Nobelhotels einzuladen. Auf diesen Sitzungen soll dann in der Nachfolge Gorgias' -oft mit Hilfe banaler Rhetorik- an der beiderseitigen Umsatzsteigerung gedreht werden.)
Ein wichtiges Rhetorik-Lehrbuch hat Aristoteles (384-322 v. Chr.) geschrieben, das in philosophischen Seminaren auch heute noch studiert wird. Hier stellt Aristoteles die wichtigsten Voraussetzungen für die Fabrikation von Reden zusammen. Einen wichtigen Platz nehmen die Stilmittel ein, die alle Redner (auch ein Hitler!) -mehr oder weniger gekonnt und wirkungsvoll- einsetz(t)en.
Cicero beginnt sein erste Catilina-Rede sofort mit einem sprachlichen Überfall mit Hilfe dreier Q-Fragen. (Jede Frage beginnt mit dem gleichen Buchstaben, hier mit Q; man nennt diese Stilfigur Alliteration.) Jede dieser anklagenden Fragen, auf die natürlich niemand eine Antwort erwartet, enthält eine inhaltliche Steigerung, eine sogenannte Klimax. Daß es meist gerade drei Elemente sind, ein sogenanntes Trikolon -denken Sie an Caesars veni, vidi, vici-, die zur Gestaltung einer Klimax benutzt werden, hat vielleicht einen psychologischen Grund. Linguistisch ist diese Tatsache so tief gewurzelt, daß wohl die meisten Sprachen das Steigerungs-Trikolon Positiv, Komparativ, Superlativ kennen.
Uns fällt ferner auf, daß diese drei rhetorischen Fragen (Interrogatio) wie bei Caesar einfach nebeneinander gestellt sind, ohne ein Bindewort. Auch das ist eine Stilfigur: das Asyndeton.
Auch eine Verallgemeinerung der Alliteration benutzt Cicereo, die sogenannte Anapher. Bei ihr wird nicht ein einzelner Buchstabe in aufeinander folgenden Wortgruppen oder Sätzen wiederholt, sondern ein ganzes Wort. In Zeile 4 donnert Cicereo dem armen Catilina -wiederum keine Antwort erwartend- sechsmal ein deprimierendes nihil an den Kopf.
Wir werden diese und weitere Stilmittel im Verlauf der Rede immer wieder antreffen. Die Fachbegriffe sollen uns nur helfen, auf diese Feinheiten mit wenigen Worten hinweisenzukönnen.
Auf eine letzte Erscheinung will ich Sie aber heute noch hinweisen. In Zeile 3 heißt es:
Quem ad fînem sêsê effrênâta iactâbit audâcia?
Eine etwas germanisierte Wortstellung währe natürlich: ad quem finem effrenata audacia sese iactabit.? Cicero hielt es für eindrucksvoll, die audacia ans Ende der Frage zu stellen, denn dort kann sie noch lange nachhallen. Um dies zu erreichen, schob er das Verb iactabit zwischen das Attribut effrenata und das Substantiv audacia. Diese Sperrung, d.h. Trennung syntaktisch zusammengehöriger Wörter durch andere, wird Hyperbaton genannt.
Die Caesar-Lektüre hat uns in der letzten Lektion zu Meistern der indirekten Rede gemacht. Wenngleich wir ihr doch täglich -wenigstens in den Nachrichten- begegnen ("Der Kanzler behauptet, er habe nie etwas von dem Geld gesehen, was -wie man behaupte- ihm gespendet worden sei..."), bevorzugen wir wohl alle, wenn immer es geht, direkt zu werden. Natürlich hätte Caesar das, was Divico oder er selbst gesagt hatte, in real time darstellen können, -also in direkter Rede. Aber er wollte eben wie ein Nachrichtensprecher klingen, das habe er so von seinen Vätern gelernt, dîxit.
Was uns geschraubt vorkommen mag, war bei den schreibenden Lateinern halt fein. Man berichtet indirekt, indem man das wirklich Gesagte abhängig sein läßt von einem -nicht unbedingt vorhandenen-Verb des Sagens: Er sagte, erzählte, bat, fragte, befahl oder ähnlich.
Bei der direkten Rede benutzen wir Hauptsätze -im Wesentlichen Aussagen im Indikativ (ich habe Hunger), Fragesätze (wie spät ist es?), Begehr- und Befehlssätze (wenn er doch seinen Mund hielte!-Konjunktiv!)-, Nebensätze und Partizipialkonstruktionen aller Art.
In der indirekten Rede stehen im Lateinischen alle Prädikate im Infinitiv oder im Konjunktiv.
(Im Deutschen wird die Konjunktiv-Forderung immer seltener erfüllt. Hört man nicht oft Sätze der folgenden Machart: Robert sagt, daß er Hunger hat und daß das Taschengeld keineswegs ausreicht...? Wenn hier der Konjunktiv stehen sollte, könnte man die Aussage dadurch in Zweifel ziehen, vgl. Griechisch, 10. Tag.)
Wie dem auch sei, wir unterscheiden jedenfalls drei Haupttypen der indirekten Rede:
indirekte Aussagesätze, |
Beispiel: A sagt zu einem Mann B:
Gestern habe ich deinen Freund in Rom besucht .Heri amîcum tuum Rômae vîsî. (vîsô, vîsî, - , vîsere besuchen = vîsitâre) C berichtet -z.B. der Polizei-, was A zu jenem Mann B gesagt hatte: Er sagte, daß er tags zuvor den Freund jenes Mannes in Rom besucht habe. Dîxit sê prîdiê amîcum illîus Rômae vîsisse. |
Beachten Sie bitte, daß in der indirekten Rede
tuus durch illîus ersetzt werden mußte!Cicerô postulâvit, ut explôrâtôrês natûram coniûrâtiônis cognôscerent.
Die am meisten benutzte Form der indirekten Rede ist der Bericht einer dritte Person, z.B. Dîxit sê prîdiê vînum êmisse. Er sagte, daß er tags zuvor Wein gekauft hätte.
Die beiden anderen Möglichkeiten mit dîxî oder dîxistî werden wir in der Literatur seltener antreffen, also etwa dîxî mê prîdiê vînum êmisse ich sagte, daß ich tags zuvor Wein gekauft hätte oder dîxistî tê prîdiê vînum êmisse du sagtest, daß du tags zuvor Wein gekauft hättest.
Wir trafen auch auf Bedingungssätze in indirekter Rede, die die Form eines Realis hatten: Wenn du mir Geiseln gibst, schlage ich dir nicht den Kopf ein, oder so ähnlich. In dieser Richtung gabs dann auch einige Übungssätze.
(Vielleicht gibt das folgende Beispiel auch noch ein bisschen Aufklärung zum Realis:
ôrô tê, ut crustulm mihi dônês
ich bitte dich, mir ein Plätzchen zu schenken. dônâre schenken.
Wenn im regierenden Satz ein Gegenwartstempus steht, so wird die Gleichzeitigkeit durch den Konj. Präs. bezeichnet.
Was sagt daraufhin die Tante? sî dîligêns fueris (Fut. II), â mê laudâberis (Fut. I, Pass.) atque crustula accipiês (Fut. I, Akt.). Wenn du fleißig bist (eigentl. gewesen sein wirst) wirst du von mir gelobt werden und wirst auch Plätzchen erhalten.
Ich wollte Ihnen anhand der Plätzchen einen futurischen Bedingungssatz vorsetzen, der i.a. auch, so wie hier, zu den realen Bedingungssätzen gerechnet wird: du wirst zuerst fleißig sein, und dann erhältst du die Plätzchen.
Eigentlich sollte man diesen Fall Eventualis nennen -und eigentlich kennen wir ihn schon seit der 6. Lektion: sî incolâs armâverimus, Rômânôs superâbimus.
Im Deutschen benutzen wir im Nebensatz anstelle des Futur II das Perfekt oder Präsens, anstelle des Futur I verwenden wir das Präsens oder das Futur.)
Versuchen Sie zu übersetzen
Lösungen:
Die Helvetier setzten ihren Weg fort, und Caesar ließ sie von seiner gallischen Reiterei unter dem Kommando des Häduers Dumnorix beobachten. Die aber ging in dem schwierigen Gelände zwischen Fluß und Bergen derart ungeschickt zu Werke, daß eine kleine Abordnung der Helvetier sie -unter römischen Verlusten- vertreiben konnte.
Caesar folgte den Helvetiern etwa 15 Tage lang in einem Abstand von ca. 8 km, wobei er darauf sah, daß es nicht zu ernsthaften Gefechten kam, und daß die Helvetier keine Verwüstungen anrichteten.
BG I,15
1. |
Posterô diê castra ex eô locô movent. Idem facit Caesar equitâtumque omnem, ad numerum quattuor mîlium, quem ex omnî prôvinciâ et Haeduîs atque eôrum sociîs coâctum habêbat, praemittit, quî videant, quâs in partês hostês iter faciant. |
2. |
Quî cupidius novissimum agmen însecûtî aliênô locô cum equitâtû Helvêtiôrum proelium committunt; et paucî dê nostrîs cadunt. |
3. |
Quô proeliô sublâtî Helvêtiî, quod quîngentîs equîtibus tantam multitûdinem equitum propulerant, audâcius subsistere nônnumquam et novissimô agmine proeliô nostrôs lacessere coepêrunt. |
4. |
Caesar suôs â proeliô continêbat ac satis habêbat in praesentiâ hostem rapînîs populâtiônibusque prohibêre. |
5. |
Ita diês circiter quîndecim iter fecêrunt, uti inter novissimum hostium agmen et nostrum prîmum nôn amplius quînîs aut sênîs mîlibus passuum interesset. |
wörtliche Übersetzung
1. |
Am folgenden Tag das Lager aus diesem Ort sie bewegen. Dasselbe tut Caesar und die Reiterei ganze an Zahl vier Tausend, die er aus der ganzen Provinz und den Häduern und ihren Bundesgenossen zusammengebracht hatte, er schickte voraus, die sehen sollen, welche in Teile die Feinde marschieren. |
2. |
Diese ungestümer die Nachhut nachgesetzt habend an einem ungünstigen Ort mit der Reiterei der Helvetier einen Kampf liefern; und wenige von den unsrigen fallen. |
3. |
Durch dieses Treffen erhoben die Helvetier, weil mit 500 Reitern eine so große Menge der Reiter geschlagen hatten, kühner Halt zu machen zuweilen und mit der Nachhut durch (zu) Kampf die unsrigen zu reizen sie fingen an. |
4. |
Caesar die Seinigen vom Kampf er hielt zurück und genug hatte für den Augenblick den Feind an Räubereien und Verwüstungen zu hindern. |
5. |
So Tage ungefähr 15 sie marschierten, daß zwischen der Nachhut der Feinde und unserer Vorhut nicht mehr (als) je fünf oder je sechstausend Schritte es war dazwischen. |
freie Übersetzung
Am folgenden Tag brechen sie von dort auf. Dasselbe tut Caesar und schickt die ganze Reiterei, an die 4000 Mann, die er aus der ganzen Provinz, aus dem Land der Häduer und ihrer Bundesgenossen zusammengebracht hatte, voraus. Sie sollte beobachten, in welche Richtung die Feinde zögen. |
Verben
praemittere
vorausschickenSonstige Wörter und Erklärungen
castra movêre
aufbrechen (das Lager bewegen)Zeile 1
Caesar benutzt in diesem Kapitel fünfmal das historische Präsens. Das coâctum habêbat in dem Relativsatz quem ... coâctum habêbat könnte auch durch das gleichwertige Plusquamperfektum coêgerat er hatte zusammengebracht ersetzt werden. Bei dem Relativsatz quî videant die sehen sollen denken Sie zweifelsohne an die Formel des senâtûs cônsultum ultimum, auf die wir oben in der Einleitung stießen: videant cônsulês, nê quid dêtrîmentî capiat rês pûblica!
An quî videant schließt sich ein indirekter Fragesatz an, der natürlich im Konjunktiv steht: quâs ... faciant. Das Subjekt dieses indir. Fragesatzes ist hostês.
Übrigens bezieht sich quî in quî videant nicht auf equitâtum die Reiterei, sondern auf die Reiter, die equitês von eques, -itis m der Reiter.
Zeile 2
Die Reiter (quî) setzten der helvetischen Nachhut zu stürmisch (cupidius) nach. însecûtî (Nom. Pl. Mask. Part. Perf. Dep.) nachgesetzt habend. Man kann auch beiordnend übersetzen: sie setzen nach (însequuntur) und liefern (committunt).
Erinnern Sie sich, wie man den Komparativ eines Adverbs bildet? In der 16. Lektion steht es:
1. bilde den Komparativ des Adjektivs (cupidior, cupidior, cupidius),
2. nimm das Neutrum (cupidius): es ist der Komparativ des Adverbs.
Zeile 3
Hauptsatz ist Helvêtiî coepêrunt die H. begannen, quô proeliô durch diesen Kampf ist Ablativus instrumenti auf die Frage wodurch, womit? Vergl. auch novissiomô agmine mit der Nachhut. Zum Adverb audâcius vergl. Zeile 2.
Der NS quod (Helvêtiî)... propûlerant weil die H. geschlagen hatten gibt den Grund an für ihr aggressives Verhalten.
Zeile 4/5
Auffallend ist, daß Caesar jetzt zweimal das Imperfekt benutzt: continêbat er hielt zurück und satis habêbat er beschränkte sich. Mit diesem Tempus will er ausdrücken, daß er fortwährend damit beschäftigt war, die Soldaten von Kämpfen mit der helvetischen Nachhut abzuhalten, und daß er alle Hände voll zu tun hatte, die Helvetier an Räubereien und Verwüstungen zu hindern. Es handelt sich um die iterative Aktionsart, die wir in der 6. Lektion besprachen.
In der letzten Periode weist das Adverb ita auf den nachfolgenden Konsekutivsatz mit Konjunktiv (interessent) hin. Eingeleitet wird der Folgesatz von uti daß, so daß.
Nach mîlia steht der Genitiv passuum. Hinter nôn amplius (quam) ist quam ausgelassen worden, und die Zahlenangabe steht dafür im Ablativ.
Lösungen:
Ovid, Metamorphosen III, 10 -18
Ich werde Ihnen die nächsten neun Verse zuerst ohne Hilfszeichen -außer den beiden Elisionen- anschreiben. Bitte lesen Sie sich jeden Vers solange laut vor, bis sich ihnen ein "gutes Gefühl" einstellt. Dabei sind Anfang und Ende eines Hexameters immer besonders einfach zu lesen. In der Mitte muß man manchmal ein wenig herumprobieren. Markieren Sie sich alsdann die zu betonenden Stellen. Es macht bei all dem nichts aus, wenn Sie inhaltlich zunächst nicht alles verstehen. Der Inhalt ist eine sekundäre Angelegenheit, Hauptsache, es klingt gut. (Denke Sie an so manche herrliche Opernarie, die Sie tief bewegen kann, obgleich Sie kein Wort verstehen!).
10 |
"Bos tibi", Phoebus ait, "solis occurret in arvis, |
11 |
nullum passa iugum curviqu(e) immunis aratri. (sprich: kurvî-kwim-mûnis) |
12 |
hac duce carpe vias et, qua requieverit herba, |
13 |
moenia fac condas Boeotiaqu(e) illa vocato." ( sprich: Bö-ô-ti-a-kwil-la) |
14 |
Vix bene Castalio Cadmus descenderat antro, |
15 |
incustoditam lente videt ire iuvencam |
16 |
nullum servitii signum cervice gerentem. |
17 |
subsequitur pressoque legit vestigia gressu |
18 |
auctoremque viae Phoebum taciturnus adorat. |
Erklärungen:
10/11
bôs, bôvis f Rind; sôlus, a, um einsam, allein; arvum, î n die Flur, das Gefilde, Ackerland
occurrô, currî, cursum, occurrere entgegenlaufen, begegnen; curvus, a,um gekrümmt
arâtrum, î n Pflug (arâre pflügen); immûnis, e frei von (immun sein)
Der kurze Zwischensatz Phoebus ait Phöbus sagte ist eine Parenthese. Das Verb occurret (Ind.Fut I, Akt.) es wird begegenen trennt das Attribut sôlîs von seinem Substantiv arvîs in den Fluren. Oben bei Cicero (vgl. "Ein wenig über Rhetorik und Stilmittel") lernten wir, daß die Trennung eines Attributs von seinem Substantiv Sperrung (Hyperbaton) heißt. Nicht nur in der Rhetorik treffen wir dieses Stilmittel an, sondern -und besonders häufig sogar- in der Poesie. Das bestätigt der 11. Vers, in dem wir das Hyperbaton gleich zweimal antreffen! Zunächst trennt passa gelitten habend (Nom. Sing. Fem. Part. Perf. Dep. von patior, passus sum, patî leiden- vgl. Passion) nûllum von iugum, dann wird curvî durch immûnis von arâtrî getrennt. Kadmos wird also ein Rind (früher sagte man Färse) treffen, quae nûllum iugum passa est die (noch) kein Joch gelitten (getragen) hat- et quae immûnis est curvî arâtrî und die frei ist vom gekrümmten Pflug, die also noch nie vor einen Pflug gespannt wurde.
Phöbus sagte: "Ein Rind wird dir auf einsamer Flur begegnen,
das noch kein Joch trug und noch keinen gekrümmten Pflug zog.
Beachten Sie den "poetischen Plural" in sôlîs arvîs auf einsamen Fluren. Im Deutschen benutzen wir auf einsamer Flur. Auch im 12. Vers steht ein poetischer Plural: carpe viâs, was wörtlich heißt: pflücke Wege. Gemeint ist natürlich: lege den Weg zurück oder einfach folge.
Hier haben Sie jetzt die ersten beiden Verse (10./11.) mit Bezeichnung der naturlangen Silben (Vokale) und Markierung von Betonung, Versfüßen und Cäsur. Die positionslangen Silben werden nicht besonders gekennzeichnet.
10 |
Bôs tibi, | Phoebus a-|-it,|| sô-|-lîs oc-|-curret in | arvîs, |
11 |
nûllum | passa iu-|-gum || cur-|-vîqu(e) îm-|-mûnis a-|-ratrî. (sprich: kurvî-kwim-mûnis) |
12/13
hâc duce
unter ihrer (bôs) Führung (Abl. abs.)
12 |
hâc duce | carpe vi-|-âs || et, | quâ requi-|-êverit | herbâ, |
13 |
moenia | fac con-|-dâs || Boe-|-ôtia-|-qu(e) îl-la vo-|-câtô. ( sprich: Bö-ô-ti-a-kwil-la) |
14/16
vix Adv. kaum, vix bene kaum richtig
dê-scendô, scendî, scênsum, scendere hinabsteigen, herabsteigen
Castalius, a,um kastalisch (Die kastalische Quelle liefert immer noch kühles, trinkbares Wasser. Sie finden sie in Delphi, nur ein paar Hundert Meter vom Museum entfernt, am Anfang einer seitlich der Straße gelegenen Schlucht. Die Quelle gab der Grotte, in der das Orakel sich verlauten ließ, den Namen-vermutlich!)
iuvenca, ae f junge Kuh, Färse (überhaupt etwas Junges); sîgnum, î n Merkmal, Zeichen
servitium, iî n Gesinde, Knechtschaft; cervix, cervîcis f Nacken
Vers 15 ist mit viel poetischer Freiheit gestaltet worden, gemeint ist etwa Folgendes:
Cadmus videt lentê îre incustôdîtam iuvencam Kadmos sieht eine unbewachte Färse langsam gehen. In dem Adjektiv incustôdîtam gibt es außer den beiden naturlangen noch zwei positionslange Silben: in, cus. Die Silbe tam schließt mit m und ist daher kurz. Da aber das nächste Wort mit einem Konsonant beginnt, tritt Positionslänge ein: ïncüs-|-tôdî-|-täm.
Hören Sie beim lauten Lesen der Spondeen von Vers 15 auch die Hufe der Färse klappern?
Um diesen Effekt der Lautmalerei zu erreichen, mußte Ovid den seltsamen Satzbau verwenden.
Im folgenden Vers finden wir noch den zu iuvencam gehörenden Akk. Sing. Fem. Part. Präs. Akt. gerentem tragend. In der Übersetzung verwenden wir einen Relativsatz:
quae nûllum gerêbat servitiî sîgnum (in) cervîce.
Kaum war Kadmos ganz von der kastalischen Grotte hinabgestiegen,
sieht er eine langsam gehende unbewachte Färse,
die kein Zeichen der Knechtschaft auf dem Nacken trug.
14 |
Vix bene | Castali-|-ô || Cad-|-mus dês-|-cenderat | antrô, |
15 |
i ncus-|-tôdî-|-tam || len-|-tê videt | îre iu-|-vencam |
16 |
nûllum | serviti-|-î || sîg-|-num cer-|-vîce ge-|-rentem. |
17/18
sub-sequor, secûtus sum, sequî
unmittelbar folgen (Dep. 3. Konj.); gressus, ûs m Schritt, Gang; pressus, a, um gedrückt, gehemmt; vestîgium, iî n Spur, Merkmal (Pl. Trümmer)
17 |
subsequi-|-tur || pres-|-sôque le-|-git || ves-|-tîgia | gressû |
18 |
au ctô-|-remque vi-|-ae || Phoe-|-bum taci-|-turnus ad-|-ôrat. |